Plebiszite - Demokratie ist lustig.

Moderator: enegh

Plebiszite - Demokratie ist lustig.

Beitragvon Der Neandertaler » Samstag 25. September 2010, 23:19

Als am 23. Mai 1949 das Grundgesetz verkündet wurde, hatte man darin eine föderalistische Regierungsform festgeschrieben.
    Die elf Ministerpräsidenten der drei westdeutschen Besatzungszonen sollten, laut der Militärgouverneure, in Frankfurt/Main in einer "Verfassunggebende Versammlung (...) eine demokratische Verfassung" ausarbeiten.
    Es sollte damit unter anderem eine angemeßene Zentralinstanz geschaffen werden.
    Diese Verfassung mußte von den Militärgouverneuren genehmigt werden und sollte danach "zur Ratifizierung durch ein Referendum in den beteiligten Ländern" in Kraft gesetzt werden.
    Das Grundgesetz war somit keine Verfassung. Es wurde nämlich nicht vom Volk in einem Referendum ratifiziert. Und es sollte auch nicht einen neuen deutschen Nationalstaat begründen, sondern zunächst nur aus den drei westlichen Besatzungszonen ein einheitliches Staatsgebiet machen, also nur einen westdeutschen Staat begründen.
Gleichzeitig sollte die Demokratie stabilisiert werden, daher wurden die Parteien aufgewertet, ihnen wurden aber zugleich relativ strenge Auflagen gemacht.
Obwohl lediglich an einer Stelle im Grundgesetz Parteien explizite genannt werden, kam ihnen beim Aufbau und Stärkung der demokratischen Ordnung eine besondere Rolle zu. In Art. 21 GG steht:
    "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit."
In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde von Verfassungsrechtlern und Politologen festgehalten, daß Wahlen:
    "weniger inhaltliche Richtungsentscheidungen als vielmehr bloßer Akt der Anvertrauung von Mandaten an Personen darstellten, die frei Herrschaft auf Zeit ausübten"
und demnach seien
    "Parteien nur Organisationen zur Beschaffung von Personal und zur Organisierung von Wahlen"
dennoch hat die Parteienstaatstheorie das Verständnis von der deutschen Nachkriegsdemokratie lange geprägt.
    In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik hat sich dieser Einfluß im politischen Denken wie in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen in einer Parteienstaatstheorie niedergeschlagen.
Der Staatsrechtler Gerhard Leibholz vertrat die Theorie:
    "Wahlen sind vor allem inhaltliche Richtungsentscheidungen zwischen Parteien, diese die eigentlichen Handlungseinheiten des politischen Prozesses und die gewählten Parlamentsabgeordneten eher 'gebundene Parteibeauftragte'."
Die Zustimmung zu großen Volksparteien nimmt radikal ab:
Allein die SPD hat in den Jahren der Regierung Schröder mehr als ein Viertel ihrer Mitglieder verloren.
    1976 = 1,02 Mio. - 1998 = 780.000 - 2001 = 580.000 - 2006 = 560.000
Der CDU geht es nicht viel besser.
    1990 = 778 000 - 2006: 561.000
Die CSU hält sich seit Jahren relativ stabil bei 170.000 bis 180.000 Mitgliedern.

    "wir machen Politik in der ersten Person"
verkündeten 1980 die GRÜNEN bei ihrer Entstehung aus außerparlamentarischen Protestbewegungen und Teilen der SPD.

    "Demokratie ist lustig." - meinte einst Joseph Beuys.
      Er war auch für den "Fettfleck" verantwortlich, den eine Putzfrau im Museum entfernt hat.
      Herr Beuys behauptet letzlich, dies war Kunst.
    "Politikverdrossenheit" - hieß das Wort des Jahres 1992.
    "Mediokratie" - dieser Begriff wird seit kurzem verwendet.
    "Mehr direkte Demokratie!" - klingt es überall.
Zwar hat man Letzterem zumindest auf Kommunaler- und Länderebene vermehrt Rechnung getragen, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg.
  • Können Plebiszite die Zustimmung zur Demokratie erhöhen?
      Besonders in der Hinsicht, daß dadurch zunehmend "emotionale" Entscheidungen getroffen werden können, wird Politik auf diese Weise letztlich zum Bestandteil einer "Eventkultur", zu einen Stimmungsdemokratie, in der Eindruck und Ereignis zählen, weniger das Ergebnis.
      Hamburg:
        hier haben einige Wenige - zum überwiegenden Teil Akademiker, die ihre Felle fortschwimmen sahen, die ihren Besitz - in Form von Wissen, welches nicht leiden soll, indem ihre Kinder unter dem Nichtwissen der Kinder aus unterprivilegierten Bevölkerungsteilen leiden - die diesen "Besitz" so vehement verteidigt haben ... zum Nachteil der großen, schweigenden Mehrheit.
Hätten wir schon immer die Möglichkeit von Volksabstimmungen gehabt, wär somanche Entscheidung nicht zustande gekommen. Entscheidungen, die sich im Nachhinein als gut und richtig darstellt: Adenauer's Westbindung oder Brandt's Ostpolitik sowie Schmidt's NATO-Doppelbeschluß.
Allerdings: der Ausbau der Kernenergie hätte Anfang der 50er Jahre regen Zuspruch bekommen.
  • Können nicht durch Plebiszite vermehrt "faule" Gesetze und Entscheidungen seitens Politik getroffen werden?
      Da Entscheidungen getroffen werden, mit dem Hintergedanken:
        wenn sie zur Entscheidung dem Volk vorgelegt werden, könnten sie "kassiert" werden, daß daher Entscheidungen anders getroffen werden, die unter Umständen nicht innovativ und gut sind.
Auch die Schweiz, die ja gerne als Vorzeige-Instrument herhalten muß, läßt auch nicht über alles abstimmen.
  • Oder sollten wir nicht innerhalb des Systems Änderungen vornehmen:
      etwa
      1. Wahlrechtsreform - Mehrheitswahlsytem
      2. Parteienlistenabschaffen
      3. Fraktionszwang abschaffen
      etc.
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Re: Plebiszite - Demokratie ist lustig.

Beitragvon Elfer » Sonntag 26. September 2010, 06:04

Ich plädiere vor allem für die Abschaffung des Fraktionszwanges. Der Bürger in Deutschland will gar keine plebiszitäte Verantwortung. Er nutzt sie ja kaum da, wo sie schon möglich ist.
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Re: Plebiszite - Demokratie ist lustig.

Beitragvon Der Neandertaler » Sonntag 26. September 2010, 12:21

Hallo Elfer.
Elfer hat geschrieben:Ich plädiere vor allem für die Abschaffung des Fraktionszwanges.

Grundsätzlich wäre dies auch mein Anspruch, allerdings komme ich da in Zweifel, ob dies sinnvoll und innovativ wäre.
Wenn der Abgeordnete, der ja nunmal vom Volk gewählt wurde, wenn dieser, so wie es in Art. 38 unseres geschätzten Grundgesetzes steht, wenn alle dies beherzigen sollten.
    Art. 38
    Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer,
    freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an
    Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
    [/font]
Da haben wir auch schon das erste Problem:
    nicht alle Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind (direkt) gewählt worden ... sie kamen über Listen der Parteien in's jeweilige Parlament.
Sollten wir nicht im ersten Schritt mal versuchen diese Listen zu verändern?
Etwa durch panaschieren (frz.: panacher = farbig machen, mischen) oder kumulieren (lat. cumulus = Anhäufung).
Letzlich würde dies zu einer (radikalen) Änderung des Wahlsystems führen.
Da unser Wahlsystem ja ein Zwitter ist:
    mit der Erststimme wählen wir "Direktkandidaten", und mit der Zweitstimmme wählen wir das Verhältnis der Parteien untereinander.
    (Verhältnisse können schön sein, aber in Politik ...?)
Ein reines Mehrheitswahlsystem hätte mehrere Vorteile:
  1. die Kandidaten könnten eher mit gutem Gewissen agieren, so wie es in Art. 38 steht.
      Wie etwa Hans-Christian Ströbele - ich will seine Art nicht bewerten.
      Er gewann im Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost (Wahlkr. 84) ein Direktmandat (2002 = 31,6%) für seine Partei und zieht damit regelmäßig in den Bundestag ein.
    Sie wären also unabhängiger von Weisungen der Parteioberen.
  2. Die Regierungsbildung wäre etwas einfacher, weil nicht soviel verschiedene Parteien im Parlament.
      Wer wollte behaupten, daß etwa Großbritannien keine Demokratie ist, nur weil sie kein Verhältniswahlsystem besitzt?
Andererseits:
    Eine derartige Regierung, wie bei uns in NRW, sehe ich als fatal an, daß die Regierung also immer auf einzelne Abgeordnete der Opposition angewiesen ist. Ich weiß nicht, ob dies auf Dauer zu guten Gesetzen führt, ob dies nicht zu Gesetzen führt, die einer zu gewissen vorauseilenden Gehorsamkeit führen würde?
Insofern habe ich eine zweigeteilte Meinung zur Veränderung bzw. Abschaffung des Fraktionszwangs. Eine Regierung benötigt vielleicht eine gewisse Verläßlichkeit ... inbezug auf verläßliche politische Entscheidungen.
Ich glaube, dies könnte auch in unserem Interesse liegen.
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Re: Plebiszite - Demokratie ist lustig.

Beitragvon Elfer » Montag 29. November 2010, 20:59

Bin beim Stöbern auf ein paar Infos zum Volksabstimmung in der Schweiz gestoßen und war ein wenig überrascht.

In vielen Foren wird ja die Schweiz als das Musterländle der direkten Demokratie dargestellt. Die Forderung nach mehr direkter Demokratie ist mit der Behauptung oder Annahme verbunden, dass der Wähler dies annimmt und es zu einem Mehr an politischen Interesse, durch mehr Entscheidungsmöglichkeiten kommt.

Nur, ist gerade die Schweiz ein Indikator für diese Erwartungen?

Nationalratswahl - Wahlbeteiligung in %
1919 - 80,4
1922 - 76,4
1925 - 76,8
1928 - 78,8
1931 - 78,8
1935 - 78,3
1939 - 74,3
1943 - 70
1947 - 72,4
1951 - 71,2
1955 - 70,1
1959 - 68,5
1963 - 66,1
1967 - 65,7
1971 - 56,9
1975 - 52,4
1979 - 48
1983 - 48,9
1987 - 46,5
1991 - 46
1995 - 42,2
1999 - 43,4
2003 - 45,4
2007 - 49,9

Dazu mal der Vergleich Deutschland

Bundestagswahl - Wahlbeteiligung in %
1949 - 78,5
1953 - 86
1957 - 87,8
1961 - 87,7
1965 - 86,8
1969 - 86,7
1972 - 91,1
1976 - 90,7
1980 - 88,6
1983 - 89,1
1987 - 84,3
1990 - 77,8
1994 - 79
1998 - 82,2
2002 - 79,1
2005 - 77,7
2009 - 70,8

Ich will gar keinen Wettlauf provozieren. Ich war nur überrascht und fand die Ergebnisse nicht wirklich uninteressant.

Ja, da kann man sagen, dass sie hier ja keinen direkten Einfluß auf politische Entscheidungen haben.

Aber die Volksabstimmungen sind auch...

Jahr Beteiligung in %
1990 - 40.7
1991 - 32.3
1992 - 52.0
1993 - 48.0
1994 - 44.3
1995 - 39.1
1996 - 36.4
1997 - 38.1
1998 - 43.7
1999 - 39.9
2000 - 44.3
2001 - 45.3
2002 - 48.2
2003 - 39.2
2004 - 46.8
2005 - 51.2
2006 - 40.7
2007 - 41.2
2008 - 43.8
2009 - 46.2
2010 - 45.7
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Re: Plebiszite - Demokratie ist lustig.

Beitragvon Der Neandertaler » Dienstag 30. November 2010, 19:00

Hallo Elfer.
Elfer hat geschrieben:Bin beim Stöbern auf ein paar Infos zum Volksabstimmung in der Schweiz gestoßen und war ein wenig überrascht.

In vielen Foren wird ja die Schweiz als das Musterländle der direkten Demokratie dargestellt. Die Forderung nach mehr direkter Demokratie ist mit der Behauptung oder Annahme verbunden, dass der Wähler dies annimmt und es zu einem Mehr an politischen Interesse, durch mehr Entscheidungsmöglichkeiten kommt.

Nur, ist gerade die Schweiz ein Indikator für diese Erwartungen?

...

Ich will gar keinen Wettlauf provozieren. Ich war nur überrascht und fand die Ergebnisse nicht wirklich uninteressant.

Ja, da kann man sagen, dass sie hier ja keinen direkten Einfluß auf politische Entscheidungen haben.

Aber die Volksabstimmungen sind auch...

    Die Analyse ist vollkommen richtig!
    Direkte Demokratie wird weithin als Garant zur Zustimmung zur Demokratie verstanden ... uns verkauft. Allerdings:
      Menschen werden sich nur für Sachen interessieren ... und darüber entscheiden, wenn diese sie unmittelbar betreffen. Von daher ...
      mit Plebisziten, mit der Möglichkeit der Einflußnahme wird vielleicht das Verständnis für den Zusammenhang politischer Prozesse gestärkt ... und das strukturierte Denken, aber ...
      Verständnis, strukturierte Denken: auch da hab ich manchesmal meine Zweifel

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