Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen?

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Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen?

Beitragvon Der Neandertaler » Freitag 10. September 2010, 10:15

    "Kinder statt Inder."
verteidigt seinerzeit NRWs schwarzsehender und selbsternannte Arbeiterführer Jürgen Rüttgers seine Postkartenaktion. Allerdings lautete der Slogan, der darauf zu lesen war und der zur Debatte stand, nicht wie der ürsprüngliche verbale Ausrutscher, sondern nüchtern:

    "Mehr Ausbildung statt mehr Einwanderung"
      Im Gedächtnis blieb allerdings der ursprüngliche Text.
Die Postkartenaktion sollte eine Anti-Green-Card-Kampagne zur Maßnahme der Regierung Schroeder sein. Denn Rüttgers war der Meinung, befristete Arbeitserlaubnisse für Computerfachleute aus Nicht-EU-Staaten seien der falsche Weg zur Lösung des Fachkräftemangels in der Informationstechnik.

    "Wenn die SPD Elitebildung verpönt und dann Eliten aus dem Ausland hereinholt ..."
dies hatte nicht nur Stoiber als einen Widerspruch angesehen.

    "Die demographische Entwicklung hilft dem Arbeitsmarkt."
Solche Prognose gab es in (West-) Deutschland erstmals 1976, 1983 und später: 2006. Doch seltsam, das Wunder fand nie statt. Nie schien der Arbeitsmarkt sich so zu verhalten, wie es die Demographie erwarten ließ.

Neueste Prognosen sagen für das Jahr 2018, allerspätestens aber für 2025 einen landesweiten Facharbeitermangel voraus.

  • Ist das endlich, endlich der Segen der demographischen Entwicklung?
    "Ich möchte nicht, daß es in der Wirtschaft zugeht wie bei vielen deutschen Fußballklubs:
      Daheim wenig ausbilden und die guten Spieler im Ausland einkaufen."
sagte Volker Kauder 2007.

    "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern."
nicht wahr Herr Kauder?

Angesichts unseres Millionen-Arbeitslosen-Heeres kommen neuerdings Klagen aus Politik und Wirtschaft über Facharbeitermangel und das Zuwanderungsrecht soll gelockert werden.
  • Haben wir nicht selbst genug Fachleute unter unseren Arbeitslosen?
Allerdings:
  • Sind unsere "Fachleute" allgemein und nicht nur betrieblich gut ausgebildet?
    Also:
    Überbetrieblich ausgebildet, auch für andere Unternehmen, falls der derzeitige Arbeitgeber pleite geht, sind diese "Fachleute" dafür genug ausgebildet?
Denn einerseits:
  • Welchen Grund soll ein tätiger Arbeitnehmer haben sich beruflich weiterzubilden; er hat ja einen Job, also ein regelmäßiges Einkommen.
Andererseits:
  • Welchen Vorteil darf ein Unternehmer sich erwarten, würde er seinen Arbeitnehmer zur Fortbildung schicken?
  • Hat die CDU-Haltung gegenüber der Green-Card zur jetzigen Situation beigetragen?
Noch interessanter:
  • Ist unser Weiterbildungsgesetz dazu nicht falsch ausgelegt?
    Falsch, weil nicht nur berufsorientiert bzw. berufsbezogen?
    "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen."
sagte Max Frisch in einem Interview zur Situation der Gastarbeiter der ersten Generation.
  • Bereiten wir uns mit den ausländischen Facharbeitern nicht ein weiteres, neues Problem? ... egal wie dies geregelt werden sollte.
Grundtenor:
  • Ist Wachstum das Allheilmittel für all unsere Probleme?
Ich mein, mehr Kinder tut unseren Sozialsystemen gut. Aber nur, wenn sie Arbeit bekommen, und sonst ...?
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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon Britta » Freitag 10. September 2010, 10:54

Der Neandertaler hat geschrieben:Grundtenor:
  • Ist Wachstum das Allheilmittel für all unsere Probleme?
Ich mein, mehr Kinder tut unseren Sozialsystemen gut. Aber nur, wenn sie Arbeit bekommen, und sonst ...?


Das Wachstum IST das Problem.

Dieser Zwang zu ständig mehr Wachstum/Umsatz/Konsum frist unsere Umwelt auf. Wachstum und Umweltschutz lassen sich nicht miteinander vereinbaren, egal wie man es dreht und wendet.

Arbeitsplätze wären nicht das Problem. Es gäbe genug Jobs. Wir könnten mehr Lehrer gebrauchen, auch mehr Pflegepersonal in Krankenhäusern und Einrichtungen. Auch wenn es darum geht, Ausländer zu integrieren könnte man Menschen beschäftigen, ganz neue Berufsbilder könnten entstehen.

Das Problem dabei ist, dass es keinen sichtbaren Profit in Form von Geld bringt. Keiner will es bezahlen und so zahlen dann am Ende Alle den Preis für die Dummheit der Menschen, in deren Welt kleine, bedruckte Papierscheine das Wichtigste waren.
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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon elfenpfad » Freitag 10. September 2010, 13:12

Der Neandertaler hat geschrieben
Haben wir nicht selbst genug Fachleute unter unseren Arbeitslosen?

Einerseits gibt es z.B. in Deutschland zu wenig Ingenieure, hab ich gelesen. Also sollte diese Fachrichtung für junge Studenten mehr publik gemacht werden als Studienrichtung. Zumal sie sehr zukunftsweisend sind, auch im IT - Bereich, wie z.B. Systemtechnik - Ingenieur.
Andererseits hab ich mal gelesen, dass es viele Deutsche ins Ausland zieht, auch in die Schweiz, weil das Arbeitsklima einfach angenehmer ist unter anderem. Also sollte man auch da ansetzen.

Auf der anderen Seite, zieht es scheinbar Nord - und Osteuropäer nach Deutschland :

Unter Studenten aus Nord- und Osteuropa ist der deutsche Arbeitsmarkt äußerst beliebt. Nur ein Land ist noch attraktiver.

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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon Der Neandertaler » Freitag 10. September 2010, 15:58

Liebe Britta.
Britta hat geschrieben:Das Wachstum IST das Problem.

Dieser Zwang zu ständig mehr Wachstum/Umsatz/Konsum frist unsere Umwelt auf. Wachstum und Umweltschutz lassen sich nicht miteinander vereinbaren, egal wie man es dreht und wendet.

Arbeitsplätze wären nicht das Problem. Es gäbe genug Jobs. Wir könnten mehr Lehrer gebrauchen, auch mehr Pflegepersonal in Krankenhäusern und Einrichtungen. Auch wenn es darum geht, Ausländer zu integrieren könnte man Menschen beschäftigen, ganz neue Berufsbilder könnten entstehen.

Das Problem dabei ist, dass es keinen sichtbaren Profit in Form von Geld bringt. Keiner will es bezahlen und so zahlen dann am Ende Alle den Preis für die Dummheit der Menschen, in deren Welt kleine, bedruckte Papierscheine das Wichtigste waren.

Gut, Problem erkannt ... Problem gebannt?
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde eine Rechnung aufgemacht, diese besagte, daß, alleine um unsere jetzigen Arbeitslosenzahlen zu halten, also um nicht noch mehr "zu produzieren", dazu benötigten wir ein Wachstum von ca. 3% - wohlgemerkt: auch um unser jetziges Wohlstands-Niveau zu halten. Nach der Zinses-Zinns-Rechnung hieße dies doch, daß unsere Wirtschaft etwa alle 23 Jahre sich neu erfinden müßte.
Dies alles, ohne weitere neue Arbeitsplätze zu schaffen; dafür würden weitere 0,1% Wachstum für etwa 100.000 Arbeitsplätze benötigt - nach heutiger Lesart: Vollzeitstellen und versicherungspflichtig.
Insofern frage ich mich, ob dies zu schaffen ist, ob wir dies unter normalen Umständen, unter gesunden Bedingungen schaffen werden bzw. können?
Ich meine, wenn wir uns heute schon wundern, daß ein Aufschwung von etwa 2% keine neuen Arbeitsplätze schafft ... welche Arbeitsplätze sollten das auch sein, außer Zeit- oder Leiharbeit ... oder sonstige prekäre Arbeitsverhältnisse?

Fazit:
Der Wachstums-Glaube, ja fast schon -Hörigkeit, frißt nicht nur die Umwelt auf, sondern letztlich auch uns, richtig. Hat uns dieser Wahn nicht erst in diese jetzige Situation, mit Wirtschaftskriese etc., gebracht? Hat nicht das paranoide Verlangen der US-amerikanischen Bevölkerung nach "Jedem seine eigenen vier Wände" und beim Verkauf "soviel Geld wie möglich zu bekommen", hat nicht das alles zu dieser Krise beigetragen. Das Gleiche trifft selbstverständlich auch auf unsere Banken zu.
Wie bemerkte doch 'uns Angi' zutreffend:
    „wir müssen wieder dahin wo wir vor der Krise waren“.
Die glücklichsten Menschen, zumindest optisch, leben doch in Armenvierteln, respektive: in armen Ländern, wie etwa Ländern der Dritten Welt. Länder, die wir gerne als unzivilisiert und rückständig betrachten.

Insofern kann ich Deinen Bemerkungen nur zupflichten. Denen ist kaum etwas hinzuzufügen ... außer Obiges ... Bescheidenes.
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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon Elfer » Freitag 10. September 2010, 16:34

elfenpfad hat geschrieben:
Der Neandertaler hat geschrieben
Haben wir nicht selbst genug Fachleute unter unseren Arbeitslosen?

Einerseits gibt es z.B. in Deutschland zu wenig Ingeneure, hab ich gelesen. Also sollte diese Fachrichtung für junge Studenten mehr publik gemacht werden als Studienrichtung. Zumal sie sehr zukunftsweisend sind, auch im IT - Bereich, wie z.B. Systemtechnik - Ingeneur.


Eine ganz schlechte Bedarfsrechnung. Igendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass alle Unversitäten und Fachhochschulen den Bedarf nicht decken können. Wie auch immer, frage ich mich dann, wo all die jungen Ingenieure sind die in den Vorjahren feststellen mussten, dass es zu wenig Arbeit für zu viel Ingenieure gibt.

Vielleicht ist die Ausbildung der Ingenieure das Problem, ihre Qualifikation. Daher behauptet man einen Mangel, um sich im Ausland "bedienen" zu können.

Denn gerade in der Ausbildung müsste die Industrie sich an die eigene Nase packen. Damit meine ich auch die Ausbildung der Facharbeiter, die halt Aufgabe der Industrie ist. Sie wurde lange Zeit stark vernachlässigt, nun zieht man sich wieder aus der Verantwortung, indem man über die Qualifikation der Schulabgänger klagt.

Wie dem auch sei, die Kläger müssen wohl erst ihren eigenen Ansprächen gerecht werden. Sollte es wenigstens ansatzweise die behauteten Probleme geben, muss man nicht nur von Schulseite daran arbeiten. Da hat die Wirtschaft so lange ihr wissen gehütet, bis die Karre im Dreck war.

Ich habe in den letzten 1 1/2 Jahren eher schlechte Erfahrungen mit Arbeitgebern (Ausbildungsbetriebe) gemacht. Sie sollten da eher den Ball ganz flach halten.

elfenpfad hat geschrieben:Andererseits hab ich mal gelesen, dass es viele Deutsche ins Ausland zieht, auch in die Schweiz, weil das Arbeitsklima einfach angenehmer ist unter anderem. Also sollte man auch da ansetzen.

Auf der anderen Seite, zieht es scheinbar Nord - und Osteuropäer nach Deutschland :

Unter Studenten aus Nord- und Osteuropa ist der deutsche Arbeitsmarkt äußerst beliebt. Nur ein Land ist noch attraktiver.

Europas Fachkräfte zieht es nach Deutschland


Ich glaube aber auch, dass das angebliche bessere Arbeitsklima nicht der Grund war und ist. In erster Linie geht es um Geld und Reputation. Das Leben im Ausland gehört heute fast zu einem Muss, es beginnt in der Schule, spätestens direkt danach.

Wenn ich junge Studenten vor der Kamera sehe und die vom schlechten Arbeitsklima in Deutschland sprechen, klingt das für mich eher wie das Widerkäuen der aktuellen Slogan....

Nein ehrlich, sich hier gut ausbilden lassen und dann zum Verdienen ins Ausland gehen, halte ich für Fluchtverhalten, vor allem, wenn die Gründe vorgeschoben sind. Heute wollen viele nicht mehr Verantwortung übernehmen und sich für Verbesserungen im Land einsetzen.

Ich halte das aber nur für einen allgemeinen Trend in diesem Land. Jammern auf hohem Niveau....
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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon elfenpfad » Freitag 10. September 2010, 17:00

Elfer hat geschrieben

Ich glaube aber auch, dass das angebliche bessere Arbeitsklima nicht der Grund war und ist. In erster Linie geht es um Geld und Reputation. Das Leben im Ausland gehört heute fast zu einem Muss, es beginnt in der Schule, spätestens direkt danach.

Wenn ich junge Studenten vor der Kamera sehe und die vom schlechten Arbeitsklima in Deutschland sprechen, klingt das für mich eher wie das Widerkäuen der aktuellen Slogan....

Nein ehrlich, sich hier gut ausbilden lassen und dann zum Verdienen ins Ausland gehen, halte ich für Fluchtverhalten, vor allem, wenn die Gründe vorgeschoben sind. Heute wollen viele nicht mehr Verantwortung übernehmen und sich für Verbesserungen im Land einsetzen.

Ich halte das aber nur für einen allgemeinen Trend in diesem Land. Jammern auf hohem Niveau....

hmm, einerseits geb ich Dir ja gern Recht, was das "Jammertum" der Deutschen betrifft :mrgreen:

Aber so wie ich von einigen hier lebenden und arbeitenden Deutschen immer wieder höre, schätzen sie wirklich vor allem auch das Arbeitsklima in der Schweiz. Weniger Mobbing, ruhigere und bedachtere Vorgehensweise ohne endlose Diskussionen, die oft zu nichts oder wenig führen ;)
Der höhrere Lohn kommt sicher auch dazu, allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass die Arbeitszeiten in der Schweiz über 40 Std. pro Woche liegen. Normal ist eigentlich 42 Std. Auch sind die Lebenshaltungskosten einiges höher.

Allerdings geb ich Dir zu dieser Deiner Aussage Recht:
Heute wollen viele nicht mehr Verantwortung übernehmen und sich für Verbesserungen im Land einsetzen.
Denn im Grunde liegt es in einigen Bereichen sicher auch an dem Einsatz von jedem Einzelnen.
nun zieht man sich wieder aus der Verantwortung, indem man über die Qualifikation der Schulabgänger klagt.

Könnte aber durchaus was dransein, denke ich. Denn es fehlt ja scheinbar auch an motivierten und guten Lehrkräften. Viele sind ja in die Wirtschaft gewechselt, hab ich irgendwo mal gelesen :?
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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon Elfer » Freitag 10. September 2010, 17:14

Bei all dem darf man aber auch nicht eines außer acht lassen.

Der Deutsche ist sein größter Kritiker. Dies haben in den letzten Jahrzehnten viele übernommen und sich gedacht, wenn die Deutschen schon so kritisch mit sich sind, können wir uns ja einklinken.

Das lenkt ab und verschärft die Situation. Das ist wie auf dem Aktienmarkt, wenn man gezielt Gerüchte auf den Markt bringt.

Ich wollte mir z.B. mal die Verfahren bei den europäischen Gerichten anschauen. Mir erscheint es in letzter zeit so, dass von dort häufig Urteile über Deutschland gefällt werden (kann aber ein subjektiver Eindruck sein). Nur kann man natürlich damit auch viel unnötige Unruhe in ein Land bringen.
Man geht ja z.B. auch nicht her und haut den anderen Ländern der EU einen Datenschutz nach deutschem Muster um die Ohren.
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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon elfenpfad » Freitag 10. September 2010, 17:26

@Britta @DerNeandertaler

Da Ihr zwei das Thema Wachstum auf der Vorseite diskutiertet:

Zum Thema Wirtschaftswachstum um jeden Preis hab ich einen interessante Ausführung entdeckt, die ich mal hier reinstellen möchte :

Die unerhörte Idee vom Ende des Wachstums


http://www.welt.de/wams_print/article3711042/Die-unerhoerte-Idee-vom-Ende-des-Wachstums.html

Auch unter Bedingungen wirtschaftlichen Stillstands müssen Sozialsysteme und freiheitliche Demokratie funktionieren. Wie dies möglich ist, muss jetzt erarbeitet werden
Von Meinhard Miegel

Sollte es eines Beweises bedurft haben, die Wirtschaftskrise hätte ihn schlagend erbracht. Große Teile der Welt, an ihrer Spitze Europa, Nordamerika, Japan, Australien, hängen am Wirtschaftswachstum wie Alkoholiker an der Flasche. Stockt der Nachschub, werden sie von Panikattacken befallen und existenziellen Ängsten geplagt.
Die Wirtschaft muss wachsen, fortwährend wachsen. Tut sie das einmal nicht, werden unverzüglich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie wieder zum Wachsen zu bringen. Hinter diesem Ziel muss alles andere zurücktreten: ausgeglichene öffentliche Haushalte, Generationengerechtigkeit, Umwelt- und Klimaschutz, offene Märkte, internationale Solidarität, ordnungspolitische Grundsätze. Hierin sind sich nicht nur Parteien und Politiker, sondern auch eine breite Öffentlichkeit weitgehend einig.

"Ohne wirtschaftliches Wachstum kann Deutschland nicht überleben", befürchteten in einer unlängst durchgeführten Befragung 73 Prozent der Bevölkerung. "Ohne Wachstum ist alles nichts", sagten 61 Prozent. Wachstum gilt vielen als unabdingbare Voraussetzung für eine befriedigende Beschäftigungslage, funktionierende soziale Sicherungssysteme, geringe öffentliche Schulden und eine stabile demokratische Ordnung. Wohl und Wehe der meisten Völker der Erde hängen am Wirtschaftswachstum.

Es hinge dort gut, wenn irgendeine Macht stetiges Wachstum gewährleisten könnte. Die Politik tut so, als sei sie diese Macht. Selbstbewusst stellte sie das jüngste Gipfeltreffen der 20 größten Industrienationen unter das Motto "Stabilität, Wachstum, Arbeitsplätze". Aber was vermag sie wirklich?

Dass die Phase eines menschheitsgeschichtlich einzigartigen Wirtschaftswachstums zumindest in den früh industrialisierten Ländern auf absehbare Zeit vorüber ist, bezweifeln nur noch diejenigen, die ihre Augen fest vor der Wirklichkeit verschließen. Alle anderen müssten erkennen, dass die bis jetzt prägenden Nachkriegsjahrzehnte, in denen sich binnen einer Generation die pro Kopf erwirtschaftete Güter- und Dienstemenge real verdreifachte, eine absolute Ausnahmezeit waren. Sie neigte sich schon in den 70er-Jahren ihrem Ende zu.
Politiker stemmten sich dagegen. Sie fassten heroische Beschlüsse wider sinkende Zuwachsraten, sie beschworen die Bevölkerungen, mehr zu konsumieren, viele griffen zum riskanten Instrument steuerfinanzierter Konjunkturprogramme. Die abebbende Wirtschaftsdynamik war ihnen eine Krankheit, gegen die sie alle Abwehrkräfte zu mobilisieren suchten.
Nachhaltig erfolgreich waren sie nicht. Wie an einer Schnur gezogen verminderten sich in der Mehrzahl der industrialisierten Länder von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunächst die Wachstumsraten, dann die absoluten Zuwächse. Wo dies nicht geschah, wie in den USA oder Großbritannien, war der Preis hoch. Im Grunde zahlen wir in der heutigen Krise für den abermals fehlgeschlagenen Versuch dieser Länder, durch das Aufschäumen von Geldmengen Wachstums- und Wohlstandsillusionen zu erzeugen, die von Anbeginn keine Substanz hatten.
Wenn uns diese Krise etwas lehren kann und lehren sollte, dann dies: Alle Bemühungen, gegen stabile historische Trends Wachstum erzeugen zu wollen, sind zum Scheitern verurteilt. Viel zu lange haben sich die Industriestaaten mit ihrer grobschlächtigen Wachstumspolitik mehr geschadet als genutzt. Das heißt nicht, dass das Wachstum der Wirtschaft nicht wünschens- und erstrebenswert sei. Aber Wachstum um jeden Preis ist töricht. Es gibt historische Phasen, in denen sich die Wirtschaft nur recht verhalten entwickeln kann. In einer solchen Phase befinden wir uns jetzt.
Um das zu erkennen, bedarf es keiner philosophisch-physikalischen Diskurse über die Möglichkeit unendlichen Wachstums in einer endlichen Welt. Elementarer und unmittelbarer ist die Einsicht, dass der historische Wachstumsschub in den industrialisierten Ländern den fast unbeschränkten Zugriff eines kleinen Teils der Menschheit auf die Versorgungs- und Entsorgungskapazitäten der Erde zur Voraussetzung hatte. Diese Voraussetzung ist entfallen.
Anders als in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bedient sich heute die Mehrheit der Weltbevölkerung - und ihre Zahl schwillt täglich an - der Schätze der Natur. Entsprechend knapp und teuer werden Rohstoffe, fossile Energieträger und Nahrungsmittel. Die Schlagzeilen nach dem Ende der derzeitigen Krise sind vorhersehbar: "Drastische Ölpreiserhöhung würgt konjunkturelle Erholung ab", "Klimaveränderungen führen zu Wachstumseinbußen", "Arme zwingen Reiche zum Verzicht". Zwar dürfen wir hoffen, dass die Engpässe dank innovativer Durchbrüche überwunden werden können. Doch das kann dauern.
Hinzu kommt, dass in den meisten früh industrialisierten Ländern schon bald keine wirklich wirtschaftsdynamischen Völker mehr leben werden, sondern Völker, die aufgrund ihrer hohen Altenanteile und ihres nicht minder hohen materiellen Wohlstands nicht zu Abenteuern, und sei es das Abenteuer wirtschaftlicher Expansion, aufgelegt sind. Was sie mit allen Fasern suchen, ist Muße, Ruhe, Vorhersehbarkeit und vor allem Sicherheit.
Eher sind sie bereit, eine Schmälerung ihres materiellen Wohlstands hinzunehmen als sich in kräftezehrende Wettbewerbsschlachten mit aufstrebenden Volkswirtschaften zu stürzen. Man mag dagegen aufbegehren oder nicht: Die Menschen, die einst den großen Wachstumsschub bewirkten, gibt es kaum noch, weder physisch noch psychisch. An ihre Stelle sind andere getreten, die wohl noch sagen mögen "ohne Wachstum ist alles nichts"- die aber nicht daran denken, sich auch so zu verhalten.
Die Industrienationen befinden sich damit in einer heiklen Lage. Ihr Wohle und Wehe wie bisher von Wirtschaftswachstum abhängig zu machen ist tollkühn. Denn weder sind sie in der Lage, noch sind sie mental dazu bereit, dieses Wachstum zu erzeugen. Politik, die dem nicht Rechnung trägt, handelt verantwortungslos. Sie mag weiter das Wachstum der Wirtschaft nach Kräften fördern. Doch wenn es ausbleibt, darf sie nicht mit leeren Händen dastehen. Auch unter Bedingungen wirtschaftlichen Stillstands und selbst Rückgangs müssen Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssysteme, öffentliche Haushalte und freiheitliche Demokratie funktionieren. Wie dies möglich ist, muss jetzt erarbeitet werden.
Bislang hat die Politik hierzu keinen nennenswerten Beitrag geleistet. Stattdessen hat sie blind darauf vertraut, dass die Wirtschaft stets um so viel wächst, wie sie zur Aufrechterhaltung politischer Stabilität benötigt. Dieses Vertrauen hat jedoch für geraume Zeit keine Grundlage mehr.

Professor Dr. Meinhard Miegel ist Vorstandsvorsitzender von "Denkwerk Zukunft" und wissenschaftlicher Leiter des Ameranger Disputs der Ernst Freiberger-Stiftung
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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon GambitPi » Freitag 10. September 2010, 19:28

Letztlich ist jede Gesellschaft von Lebendigen (also auch von Menschen) "biologisches Konglomerat" und in der Biologie ist ungehemmtes Wachstum länger schon bekannt.
Es nennt sich Krebs und führt zu einem oft qualvollen Absterben des "biologischen Konglomerats".
Was unseren Gesellschaften fehlt sind die T-Zellen, die uns solches predigende Bazillen vom Hals schaffen...
Und das ist noch nicht Alles...
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Re: Fachkräftemangel nicht falsch, bei all unseren Problemen

Beitragvon Britta » Samstag 11. September 2010, 12:33

elfenpfad hat geschrieben:@Britta @DerNeandertaler

Da Ihr zwei das Thema Wachstum auf der Vorseite diskutiertet:

Zum Thema Wirtschaftswachstum um jeden Preis hab ich einen interessante Ausführung entdeckt, die ich mal hier reinstellen möchte :

Die unerhörte Idee vom Ende des Wachstums


http://www.welt.de/wams_print/article3711042/Die-unerhoerte-Idee-vom-Ende-des-Wachstums.html

Auch unter Bedingungen wirtschaftlichen Stillstands müssen Sozialsysteme und freiheitliche Demokratie funktionieren. Wie dies möglich ist, muss jetzt erarbeitet werden
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Warum muß es eigentlich Wachstum geben?

Wir haben Maschinen und Computer, die uns einen großen Teil der Arbeit abnehmen und wir könnten es locker schaffen, die ganze Welt zu ernähren, da wir mehr produzieren wie wir verbrauchen können. Alle könnten in Wohlstand leben und den Tätigkeiten nachgehen, die Spaß machen und interessieren. Technisch und logistisch würde es kein Problem darstellen. Die Entwicklung der Menschheit könnte einen riesigen Sprung machen. Wenn man die tägliche Arbeitszeit senkt, hätten auch alle Arbeit und ein Auskommen. Wirtschaftswachstum und Geldprofit sind zum Leben nicht notwendig.

Wir könnten Alles geregelt bekommen, nur wir tun es nicht.

Warum nicht?
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