Hallo zusammen,
mal ein ganz interessanter Kommentar aus der NZZ:
Die Ukraine und der Zerfall Jugoslawiens - Ein Blick in den Abgrund von Cyrill Stieger.
Da die Zugreifbarkeit der NZZ-Seiten in letzter Zeit massiv eingeschränkt wurde erlaube ich mir ausnahmesweise einen Full-Quote:
Die Ukraine und der Zerfall Jugoslawiens
Ein Blick in den Abgrund
Cyrill Stieger Gestern, 12. Mai 2014, 16:42
Das Referendum über die Abspaltung der beiden «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk von der Ukraine war in jeder Beziehung eine Farce. Das Ergebnis stand, ebenso wie bei der Volksbefragung auf der Krim, bereits von Anfang an fest. Putins Aufruf zur Verschiebung war ein taktischer Schachzug, um sich selber aus der Schusslinie zu nehmen. Zweifellos hätte er die Mittel gehabt, die prorussischen Separatisten in die Schranken zu weisen. Der Kreml hat aber nichts getan, denn eine Destabilisierung der Ukraine liegt in seinem Interesse. Doch das ist ein gefährliches Spiel, wie ein Blick auf die Ereignisse am Vorabend des Zerfalls Jugoslawiens zu Beginn der neunziger Jahre zeigt. Bei allen Unterschieden gibt es nämlich frappierende Ähnlichkeiten, die auch den verbohrtesten Politikern und selbsternannten «Volksführern» die Augen öffnen müssten. Es braucht überraschend wenig, und ein Land kann in den Abgrund schlittern.
Überzogene Erwartungen
Die Propaganda in Belgrad hatte den Serben in Kroatien und Bosnien eingehämmert, sie seien bedroht. In Kroatien hätten «faschistische Horden» die Macht übernommen, und in Bosnien strebten die Muslime nach einem islamischen Gottesstaat. In ähnlich verantwortungsloser Weise beschwört die russische Propaganda die Gefahr, die angeblich von der «faschistischen Junta» in Kiew ausgeht. Doch waren die Serben in Bosnien nicht bedroht. Auch die ethnischen Russen in der Ukraine und die russischsprachigen Ukrainer sind nicht in Gefahr. Die Propaganda verfehlt jedoch ihre Wirkung nicht. In Kroatien und Bosnien tauchten Bewaffnete in Tarnanzügen auf, von denen niemand wusste, wer sie waren, woher sie kamen und wer sie schickte. Barrikaden wurden errichtet, Polizeiposten besetzt. Das Ziel bestand darin, Unruhe zu stiften, Hass zu säen und durch Gewalt die Regierung zum Eingreifen zu provozieren. So konnten sich die Brandstifter zu Beschützern aufspielen. Die gleiche Strategie verfolgen die «Volksmilizen» in der Ukraine.
Im Jahr 1991 kam es in Kroatien zu den ersten Kämpfen zwischen serbischen Aufständischen und Regierungstruppen, die Zahl der Toten stieg, und Zagreb verlor – wie die ukrainische Führung heute – zunehmend die Kontrolle über Teile seines Staatsterritoriums. Die Extremisten auf beiden Seiten triumphierten, vernünftige und gemässigte Kräfte verstummten. Sie wurden zwischen den Polen zerrieben. Eine ähnlich fatale Polarisierung zeichnet sich derzeit in der Ukraine ab. Die Übergangsregierung in Kiew sieht im Osten nur noch «Terroristen» am Werk, für die prorussischen Separatisten gibt es in Kiew nur noch «Faschisten».
Auf dem Balkan wurden damals, wie heute im Osten der Ukraine, zwielichtige, dubiose und skrupellose Figuren an die Oberfläche gespült, denen es nur darum ging, Macht auszuüben. Sie profitierten vom Chaos, das sie selbst anrichteten. In Kroatien und Bosnien entstanden von Belgrad unterstützte autonome serbische Gebiete, deren selbsternannte «Präsidenten» später die Unabhängigkeit verkündeten. Referenden wurden abgehalten, um die Abspaltungen zu legitimieren. Wie sich die ausserhalb Serbiens lebenden Serben Rettung vom Belgrader Machthaber Slobodan Milosevic erhofften, setzen alle jene, die am Sonntag für die Abspaltung von Donezk und Luhansk von der Ukraine stimmten, ihre Erwartungen in Wladimir Putin.
«Volksmilizen» und selbsternannte Führer haben in Städten des Donbass eine Gewaltherrschaft errichtet. Gegner werden eingeschüchtert, gefoltert, ermordet, verschleppt. Wer eine gegensätzliche Meinung hat, verstummt. Es gibt in der Ukraine keine klaren ethnischen und sprachlichen Grenzen zwischen Ukrainern und Russen, die Übergänge sind fliessend. Eine Trennung wäre ausserordentlich schwierig. Als der Zerfall Jugoslawiens begann, hatte man in Sarajevo auch lange geglaubt, ein Krieg sei unmöglich, weil Serben, Kroaten und Bosnjaken (Muslime) in den gleichen Häusern Tür an Tür lebten. Doch es kam ganz anders.
Schwerwiegendes Versäumnis
Zweifellos hat auch die neue ukrainische Führung nach der Entmachtung von Janukowitsch Fehler begangen. So beschloss das Parlament, dem Russischen den Status einer regionalen Sprache zu entziehen. Dagegen legte der Übergangspräsident sein Veto ein. Schwerwiegender war jedoch ein anderes Versäumnis. Im Hochgefühl des Triumphs nach dem Sieg über das Regime von Janukowitsch kam niemand auf die Idee, Politiker aus dem Osten einzubinden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die meisten Bewohner in den eher russisch geprägten Gebieten der neuen Regierung in Kiew zutiefst misstrauen und sich von ihr nicht vertreten fühlen. Noch kann die zerstörerische Eigendynamik aufgehalten werden. Voraussetzung dafür sind Gespräche über eine Dezentralisierung des Einheitsstaates. Dazu braucht es aber auch gemässigte Kräfte aus dem Osten und dem Süden, die ein glaubwürdiges Gegengewicht zu den Separatisten bilden.
Freundliche Grüsse, Ralf